Bar Luxembourg

Roman

Bar Luxembourg

Inmitten der prachtvollen Altbauten und der modernen Glaskpaläste der Luxemburger Oberstadt, dort, wo das Herz der Europäischen Staatengemeinschaft schlägt, steht die geschichtsträchtige „Bar Luxembourg“. An einem Abend kreuzen sich hier die Schicksale von Menschen verschiedenster Herkunft und Nationalitäten: ein Schweizer Programmierer, ein italienischer Richter, ein Luxemburger Journalist, ein österreichischer Modevertreter, eine junge Deutsche und ein abgehalfterter englischer Musiker – für alle bringt dieser Abend eine entscheidende Wende in ihrem Leben.

Leseprobe

Jean-Marie Kirch nahm die Schulter zur Hilfe und presste sie gegen die schwere Eingangstür aus dunkel lackiertem Eichenholz. Die Tür maß mindestens drei Meter Höhe und beschrieb am oberen Ende einen Bogen, um sich an die Wölbung der Decke des alten Gebäudes anzupassen. Auf Augenhöhe war in die Tür eine Scheibe aus dunkelgrünem Milchglas eingelassen, die das Licht aus dem dahinter liegenden Raum schwach durchschimmern ließ. Um neun Uhr abends war es um diese Jahreszeit bereits dunkel. Ein leichter Nieselregen hatte den Tag begleitet und dauerte noch an.
Jean-Marie Kirch befand sich in der Innenstadt, am Rande der Ville-Haute, kurz oberhalb einer der Straßen die hinunterführen in die Ville-Basse, dem anderen Teil der Stadt, die im Tal liegt. Seit die internationalen Finanzkonzerne und die europäischen Institutionen sich vor etwa drei Jahrzehnten im Großherzogtum niedergelassen hatten, hatte sich das Gesicht der Stadt verändert. Neben den mondänen Altbauten, die man aufwendig saniert hatte, waren neue, moderne Gebäude entstanden. Nun thronten sie protzig mit ihren meterdicken, silbernen Stahlverstrebungen und den breiten Fassaden aus Glas, in denen sich zu jeder Tageszeit der Zustand und die Farbe des Himmels spiegelten, neben den altehrwürdigen Sandsteingebäuden.
Die Stadt profitierte von ihrer zentralen Lage im Herzen Europas. Die Gemeinschaft europäischer Staaten, zu dessen Mitglied sich das Großherzogtum zählte, hatte sich auf die Stadt als Sitz gemeinsamer politischer Institutionen verständigt. Diese Internationalität war in der Stadt überall spürbar. Neben den Haupteingängen der Gebäude wiesen dezente Firmenlogos in verschiedenen Sprachen ihren Besuchern den Weg, während vor dem Eingang exklusive Luxuslimousinen mit dunkel getönten Scheiben und Kennzeichen aus aller Herren Länder auf die Rückkehr ihrer Mitfahrer warteten. Entlang der breiten Boulevards, in den Zeitungsläden, stapelte sich die internationale Presse, die gelesen werden wollte. Vor allem die letzten Neuigkeiten aus Politik und Wirtschaft waren von Interesse, denn diese Informationen waren der entscheidende Treibstoff für den Antrieb des einzigen Wirtschaftsgutes der Stadt, für dessen Ablauf oder Zulauf, für das Glück oder Unglück der Investoren.
Geld war der Motor des Landes, der ununterbrochen, Tag und Nacht am Laufen war und um die Welt raste, wie ein Hochgeschwindigkeitszug, der keinen Bahnhof kennt. Die Menschen in der Stadt saßen in diesem Zug und versuchten, ihm eine Richtung zu geben, und ihn auf der Schiene des Erfolges zu halten. Jeder Einzelne verfolgte dabei sein persönliches Ziel, aber manchmal kreuzten sich die Wege und danach verliefen die Schienen nicht mehr in jener Richtung, für die sie eigentlich gedacht waren.
Obwohl Jean-Marie Kirch Luxemburger war, hatte er das Lokal noch nie besucht. Er wusste um einige der alten Geschichten und Anekdoten, die man sich in der Stadt darüber erzählte, aber wirklich geglaubt hatte er den Erzählungen nie. Trotzdem spürte er jetzt, wie eine Mischung aus Ehrfurcht und Neugier von seinen Gefühlen Besitz nahm. Sein Großvater, Mitbegründer der größten Zeitung der Stadt, war in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts Stammgast des Lokals gewesen. Damals trafen sich dort die Freigeister der Stadt, die bei einem Glas Wein aus dem nahen Elsass oder einem Calvados aus der Normandie über die Zukunft philosophierten. Jean-Marie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Großvater, bereits uralt, den ganzen Tag in seinem Polstersessel sitzend, davon erzählte, welch positive Kraft von den Diskussionen in dem Lokal ausgingen. Später, in der bunten Zeit der sechziger und siebziger Jahre, kamen die Hippies. Überall im Lokal standen bunte Plüschsofas und es wurde Marihuana geraucht. Noch später nahmen dann die Banker Besitz von dem Lokal. Auf den Tischen wurde ausgelassen getanzt und der Champagner floss in Strömen. Als kurz darauf die erste große Finanzkrise dem finanziellen Größenwahn dieser Zeit einen eisgrauen, kalten Realismus folgen ließ, wurde das Lokal geschlossen. Lange blieb es ruhig im Flügel des Altbaus, in dessen Erdgeschoß sich das Lokal befand. Wie ein stummer Zeuge, der sich von seinen aufregenden Erlebnissen erholen musste, ohne Leben, still und im Dunkeln, lag es da.
Schließlich, im Jahre 2002, an einem sonnigen Tag im Juli, floh der Franzose Alain Lemaire vor den Menschenmassen des Nationalfeiertages aus Paris. Er hatte beschlossen nach Norden zu fahren und ein paar Tage in Luxemburg zu verbringen. Vor einigen Monaten hatte er auf einer Vernissage in der französischen Hauptstadt die Bekanntschaft eines Bankers gemacht, der im Großherzogtum lebte. Damals hatte er versprochen, den neuen Freund so bald wie möglich zu besuchen. Also verabredete man sich im „Gourmet de la Ville“, einem exklusiven Restaurant in der Innenstadt. Dort genoss man hervorragendes Essen, einen vorzüglichen Wein und zum Abschluss einen alten Cognac und eine dicke Zigarre.
Lemaire gefiel die kleine Hauptstadt mit ihren weitläufigen Boulevards, dem internationalen Flair, das an jeder Ecke zu spüren war. Schnell kam man auf den Lebenspuls der Stadt zu sprechen. Geld! Lemaire, selbst erfolgreicher Pariser Geschäftsmann, war interessiert an einem Investment in der Stadt. Allerdings wollte er nichts wissen von Wertpapieren, die anschließend anonym in irgendeinem der unzähligen Fonds des Großherzogtums verwaltet wurden. Dem Franzosen schwebte etwas anderes vor. Er wollte etwas Reales erwerben. Eine Immobilie. Am liebsten eines der alten, ehrwürdigen Gebäude in der Innenstadt. Zufällig ergab es sich, dass gerade ein altes Haus, mit einem ungenutzten Lokal in einem Flügel des Gebäudes zum Verkauf stand. Sofort war Lemaire interessiert und der Banker begann ihm von der wechselvollen und aufregenden Geschichte des Lokals zu erzählen.
Kaum zwei Wochen später war der Kaufvertrag unterschrieben. Der Franzose war voller Vorfreude. Er würde in Luxemburg eine Bar eröffnen und er würde das Lokal „Bar Luxembourg“ nennen.

Bestellen

12.80 / 4.99 €
Softcover
172 Seiten
ISBN 978-3898416733
Schardt Verlag, 2012

Amazon →