Jean Ballon und die Weltsammelmaschine

Fiktion

Jean Ballon und die Weltsammelmaschine

Zur Zeit des Zweiten Großen Krieges erobern die Norkonen Europa und unterwerfen die besiegten Länder einer grausamen Militärregierung. Auch das kleine Luxchapelle ist besetzt und wird von dem tyrannischen Gouverneur Victor von Bramsfeld regiert. Nur wenige Artisten des traditionsreichen Zirkus Muncini leisten im Verborgenen noch Widerstand. Unter der Führung von Jean Ballon, der einst als Findelkind von der schillernden Zirkusgemeinschaft aufgenommen wurde, stellen sie sich der Besatzungsmacht mit irrwitzigen Aktionen entgegen und geben den verzweifelten Einwohnern Hoffnung. Doch dem Gouverneur ist diese Quelle der Freiheit und Kreativität ein Dorn im Auge und mit Hilfe einer geheimnisvollen Maschine, die sogar Gedanken und Emotionen zu kontrollieren vermag, plant er die totale Herrschaft an sich zu reißen.

Leseprobe

Sie hatte sich eine Leinenbluse übergezogen, die ihre schweren Brüste nur zur Hälfte bedeckte. Ihre langen, dunkelblonden Haare umspielten das ovale Gesicht mit den runden, blauen Augen und den kräftigen Lippen. Lasziv zog sie an einer Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch zur Decke.
Jean saß ihr gegenüber und rauchte ebenfalls.
Sie sahen sich in die Augen und schwiegen.
Er hatte sie in einem Café in Luxchapelle kennengelernt, dass er ab und zu besuchte, seitdem der Zirkus in der Stadt gastierte. Sie hatte sein Interesse geweckt, und als sie ihn ansprach, erwiderte er ihre Neugierde.
Ihren Namen benutzte er nie. Er wusste, dass sie aus dem Süden Frankreichs stammte und sich ziellos durch das Leben treiben ließ.
Inzwischen hatten sie sich ein paar Mal getroffen, waren in ihrer kleinen Wohnung verschwunden, teilten ihre Sehnsüchte und träumten von großen Abenteuern, von denen sie glaubten, dass das Leben sie ihnen schuldete.
In diesen Momenten war Jean Ballon weit weg vom Zirkus, weg von der Verantwortung, die Pierre ihm zudachte. Auch an Sophie dachte er nicht, obwohl er sie liebte und mit ihr auf eine gemeinsame Zukunft hoffte.
»Und nachdem du in Marrakesch angekommen bist, willst du weiter, die Wüste durchqueren? «
Er hatte ihr von seinen Gedankenspielen erzählt.
Ihre Leichtgläubigkeit vermochte nicht zwischen Plänen und Träumen zu unterscheiden, und so durfte er seine Träume bei ihr ausleben, weil sie seine Träume für Pläne hielt, und ihm nicht die Hoffnung auf seine Abenteuer nahm.
Jean Ballon blickte sie an: »In Marrakesch werde ich eine Zeitlang leben. Man sagt, die Menschen dort seien sehr spirituell. Danach werde ich mich einer Karawane anschließen und die Wüste durchqueren, hinunter in den Süden des schwarzen Kontinents. «
Sie zog an ihrer Zigarette und nickte ihm bewundernd zu. Mit Resignation in der Stimme erwiderte sie:
»Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Eine Zeitlang werde ich wohl noch hier bleiben, alles Weitere wird sich finden. «
Jean Ballon schwieg. Plötzlich musste er an den Zirkus denken, an Pierre und die anderen.
Das bunte, wandernde Dorf war seine Heimat geworden. An jedem neuen Ort, an dem das Zirkuslager aufgeschlagen wurde, war man mit einer neuen Gedankenwelt konfrontiert, mit unbekannten Ideologien, fremden Religionen und alternativen Lebensphilosophien. Stets blieb davon irgendetwas in der Fahrgemeinschaft zurück und vermischte sich mit der eigenen, farbenfrohen Welt.
Jean Ballon war nur zufällig ein Element dieser Zirkuswelt. Irgendjemand, er konnte sich nicht mehr erinnern, vielleicht waren es seine Eltern, hatten ihn im Zirkus ausgesetzt, ihm einen grünen Ballon in die Hand gedrückt und darauf gehofft, dass sich jemand um ihn kümmerte.
Heute, viele Jahre später, war er Teil dieses bunten Kosmos und hatte dessen Werte übernommen.
Aber wer war er wirklich und welches Leben wäre ihm bestimmt gewesen? Immer wieder quälten ihn diese Fragen. Schon oft hatte er geglaubt, sie endlich verdrängt zu haben und war erleichtert, von der zermürbenden Suche nach seiner Identität befreit zu sein.
Doch stets gab es einen Tag, eine Stunde oder auch nur einen Augenblick, in der sein Unterbewusstsein sich meldete und ihn zwang, sich seiner wahren Herkunft bewusst zu werden.
Als Heranwachsender hatte er deswegen noch mit Pierre diskutiert, ab und zu auch mit Christel, die es allerdings traurig stimmte, wenn er sein Ego außerhalb des Zirkus‘ suchte.
Mit Dimitri und Luna sprach er ebenfalls darüber.
Luna verstand sein Problem, weil sie seine Gefühle verstand.
Dimitri bemühte sich ihm zu helfen und versuchte ein Erklärungsmuster aus Logik und Rationalität anzubieten. Aber die Gespräche konfrontierten den Russen stets mit seiner eigenen Vergangenheit, die er für sich selbst noch einzuordnen suchte.
Die Lösungsansätze, die Jean dargelegt wurden, entsprangen vielen, unterschiedlichen Charakteren, derjenigen, die er um Rat fragte. Meinungsmonotonie war dem Zirkus fremd und die Meinungsbildung vollzog sich im Austausch von Ansichten einer kreativen, im Kern gänzlich irrationalen Gruppe.
Ein in seiner Meinungssuche nicht gefestigter, junger Mensch, der in der bunten, künstlerischen Welt des Fahrgeschäftes aufwuchs, wurde unweigerlich davon geprägt. Er erlebte die Vielfalt unterschiedlicher Philosophien und begriff, dass es falsch war, sich selbst und anderen Grenzen zu setzen. Also entwarf er eine Spannbreite an Idealen und begann damit, sie auszuloten.
Jean goss sich ein weiteres Glas Wein ein.
Es schien die Frau nicht zu stören, dass er mit seinen Gedanken woanders weilte. Sie zündete sich eine Zigarette an und musterte ihn schweigend.
Jean Ballon war froh, dass sie ihm keine Fragen stellte, die er nicht beantworten wollte.
Es war Sophie, die er liebte, doch Sophie gehörte zu einem anderen Mosaikstein seiner Persönlichkeit, sie war Teil seiner Verantwortungswelt.
Er suchte jedoch auch nach einer Identität, die vor dem grünen Ballon existierte. Aber so sehr er sich auch bemühte, dieses Thema auszublenden, so sehr fühlte er, dass er niemals Frieden finden konnte, solange er die Antwort nicht wusste. Früher oder später, dessen war er sich sicher, bahnte sich seine innere Zerrissenheit einen Weg. Und da er niemanden enttäuschen wollte, brach er aus der Zirkuswelt aus, erschuf sich einen eigenen Teil seiner Realität, eine Brücke, die seine Sehnsucht nach der großen Freiheit am Leben hielt.
Sie begann ihn sanft zu berühren und kurz darauf lagen sie erneut eng umschlungen im Bett.

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14.80 €
Hardcover
258 Seiten
13.4 x 21.3 cm
ISBN 978-3898418621
Schardt Verlag, 2016

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